Digitale Diagnosen von Laura Wiesböck wirft einen kritischen Blick auf den aktuellen Trend, psychische Gesundheit in sozialen Medien zu thematisieren. Die Wiener Soziologin analysiert präzise, wie Begriffe wie „Trauma“, „triggern“ oder „toxisch“ inflationär verwendet werden und oft ihre klinische Bedeutung verlieren. Dabei gelingt es ihr, ein differenziertes Bild zu zeichnen, das sowohl die positiven als auch die negativen Seiten dieser Entwicklung beleuchtet.
Positiv hervorzuheben ist Wiesböcks Fähigkeit, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge verständlich und klar darzustellen. Sie zeigt überzeugend auf, wie soziale Medien zur Enttabuisierung psychischer Erkrankungen beitragen können und Menschen helfen, sich weniger allein zu fühlen. Gleichzeitig gelingt es ihr, kritisch aufzuzeigen, dass viele dieser digitalen Diagnosen eher Inszenierungen als ernsthafte Auseinandersetzungen mit psychischen Problemen darstellen.
Digitale Diagnosen und neoliberale Strukturen
Besonders überzeugend ist ihre Analyse der Rolle neoliberaler Strukturen, die Menschen dazu drängen, sich selbst zu diagnostizieren und individuelle Lösungen für gesellschaftlich bedingte Probleme zu suchen.
Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist Wiesböcks Verzicht auf übermäßige populärwissenschaftliche Ausschmückungen. Sie kommt schnell zum Kern der Problematik und liefert eine klare Unterscheidung zwischen sinnvoller Aufklärung und kommerzieller Ausbeutung psychischer Leiden durch Influencer. Diese analytische Schärfe macht das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich kritisch mit Social-Media-Trends auseinandersetzen möchten.
Digitale Diagnosen – wo sind sie genau?
Allerdings weist das Buch auch Schwächen auf. So bleibt Wiesböck teilweise etwas oberflächlich in der Betrachtung konkreter individueller Fälle. Obwohl sie bewusst auf eine Aneinanderreihung von Anekdoten verzichtet, wäre es doch wünschenswert gewesen, einzelne Beispiele tiefergehend zu analysieren und dadurch die theoretischen Überlegungen anschaulicher zu gestalten. Zudem könnte man kritisieren, dass die Autorin zwar treffend die gesellschaftlichen Ursachen benennt, jedoch konkrete Lösungsansätze oder Handlungsoptionen eher vage bleiben.
Digitale Diagnosen von Laura Wiesböck ist ein wichtiges und gut geschriebenes Sachbuch, das einen kritischen Blick auf ein aktuelles Phänomen wirft. Es sensibilisiert für die Gefahren einer oberflächlichen Nutzung psychologischer Konzepte und regt zum Nachdenken über gesellschaftliche Mechanismen an. Trotz kleinerer Schwächen in der praktischen Umsetzung ihrer Erkenntnisse bietet Wiesböck eine fundierte und notwendige Analyse eines komplexen Phänomens unserer Zeit.
Digitale Diagnosen – die Autorin
Laura Wiesböck, geboren 1987, ist promovierte Soziologin und leitet die Gruppe »Digitalisierung und soziale Transformation« am Institut für Höhere Studien Wien. Neben wissenschaftlichen Artikeln beteiligt sie sich regelmäßig am öffentlichen Diskurs (SZ, Die Zeit, Der Standard). Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet (u. a. mit dem Käthe-Leichter- und dem Theodor-Körner-Preis). 2018 erschien »In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen«.