Wir Schlaflosen – Ralph Gerstenbergs hellwache Diagnose der Übermüdungsgesellschaft

Ralph Gerstenbergs Essay „Wir Schlaflosen. Kritik der Übermüdungsgesellschaft“ (Carl-Auer Verlag, 14,00 €) ist mehr als eine Abhandlung über Schlafstörungen – es ist ein Spiegel unserer Zeit. In prägnanten 96 Seiten entwirrt der Autor das komplexe Geflecht aus individueller Erschöpfung und kollektiver Überforderung, das unsere Gegenwart prägt. Gerstenberg, bekannt für seine gesellschaftspolitischen Radiofeatures und Kriminalromane, beweist hier erneut sein Gespür für Themen, die unter die Haut gehen.

Die Spirale der Schlaflosigkeit

Ausgangspunkt ist ein prägnantes Zitat Barack Obamas – „Vier Stunden müssen genügen“ –, das zum Symbol einer Kultur geworden ist, die Schlaf als Luxus betrachtet . Doch Gerstenberg geht tiefer: Er zeigt, wie Schlafmangel nicht nur ein persönliches Problem ist, sondern Ausdruck struktureller Krisen. Die „selbstverstärkende Spirale“ aus Abstiegsängsten, Klimasorgen und digitaler Dauerpräsenz treibe uns in einen Zustand chronischer Übermüdung, der sowohl Körper als auch Demokratie auszehre .

Besonders eindrücklich analysiert er, wie Homeoffice und Digitalisierung den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus zerstören. „Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen“, schreibt er, „und mit ihnen die Fähigkeit zur Regeneration“ . Diese Beobachtung trifft den Nerv einer Generation, die im Homeoffice-Dilemma zwischen Flexibilität und Selbstausbeutung schwankt.

Gesellschaft im Taumel

Gerstenbergs Stärke liegt darin, Mikro- und Makroperspektiven zu verbinden. Wo andere lediglich Symptome beschreiben, deckt er systemische Ursachen auf: Eine Gesellschaft, die „sich keine Ruhe gönnt“, ignoriere nicht nur biologische Rhythmen, sondern untergrabe auch soziale Bindungen. Die Folgen – Gereiztheit, politische Polarisierung, Demokratiemüdigkeit – seien keineswegs Zufall, sondern logische Konsequenzen eines Systems, das Effizienz über Menschlichkeit stelle .

Wir Schlaflosen

Dabei verfällt er nie in alarmistischen Ton. Stattdessen zeichnet er mit feiner Ironie das Bild einer „Übermüdungsgesellschaft“, die trotz aller Technikgläubigkeit ihre eigenen Grundlagen auffrisst. Sein Blick reicht von der Babyboomer-Generation, die „viele Ressourcen verbrauchte“ , bis zur Klimajugend, die im Schlafentzug ihre Zukunftsängste bekämpft.

Literarische Schärfe und Lösungsansätze

Als Erzähler beweist Gerstenberg, warum er neben Sachtexten auch erfolgreich Kriminalromane veröffentlicht: Sein Essay ist präzise recherchiert, doch stets literarisch durchkomponiert. Metaphern wie die „Taumelnde Gesellschaft“ oder das „Ausradieren der Nacht“ bleiben haften, ohne plakativ zu wirken .

Die Gretchenfrage – „Gibt es Wege aus der Schlaflosigkeit?“ – beantwortet er nicht mit simplen Rezepten. Stattdessen plädiert er für eine „Schlafhygiene der Gesellschaft“: weniger Leistungsdogma, mehr Raum für Muße und demokratische Teilhabe. Bürgerräte und Volksinitiativen sieht er als mögliche Gegenmittel zur „Demokratiemüdigkeit“ . Ob diese Vorschläge ausreichen? Gerstenberg lässt die Antwort bewusst offen – und zwingt so zum Weiterdenken.

Kritiker mögen einwenden, dass einige Thesen (etwa zur Digitalisierung) nicht ganz neu sind. Doch genau darin liegt die Stärke des Buches: Es bündelt verstreute Debatten zu einem schlüssigen Gesamtbild. Die Lektüre hinterlässt das Gefühl, endlich verstanden zu haben, warum so viele von uns nachts wachliegen – und was das über unsere Gesellschaft aussagt.

Verlag: https://www.carl-auer.de/

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